Montag, 23. August 2010

Von Selbstschutzmechanismen und anderem schamhaftem Verhalten

Fremdschämen ist ein Begriff, der immer häufiger in den Medien oder unserem alltäglichen Sprachgebrauch auftaucht. Wir genieren uns für das Fehlverhalten unserer Artgenossen. Fremdscham ist ein durch und durch überflüssiges Übel. Warum sollten uns Fehler, die wir NICHT gemacht haben peinlich sein? Manch einer redet sich damit heraus, dass der Verfehlende ihm sympathisch sei und er wegen der Empathie Fremdscham zeige. Zwei Punkte sind dabei zu bedenken: Unserere Fremdscham ist am größten, je weniger sich der Jenige selbst schämt und unsere Fremdscham tritt gelegentlich bei Menschen auf, die uns völlig unbekannt oder überaus unsympathisch sind.
Fremdscham dient unserem eigenen gesellschaftlichen Schutz: Wenn wir vor unseren Mitmenschen zeigen, dass uns das Fehlverhalten der anderen peinlich ist, symbolisieren wir damit, dass wir dieses Verhalten nicht zeigen würden und verkaufen damit ein gutes Bild von uns nach außen.
Ich glaube, dass unsere Fremdscham am größten ist, wenn wir einen Fehler wiedererkennen, den wir begangen haben und dabei nicht in der Lage waren uns dafür zu schämen (z.B. weil wir betrunken oder in der Pubertät waren, oder beides).

Scham ist wahrscheinlich ein jahrtausendealtes Gefühl. Schon immer schämen sich Menschen für etwas. Scham scheint zum Mensch-Sein zu gehören (wobei meine Katze auch Schamverhalten zeigt, wenn sie mich beim Spielen ausversehen kratzt). Scham bleibt ewig, doch der Inhalt des Schämens scheint sich zu verändern wie die Mode. Früher schämte man sich für uneheliche Kinder, heute gehören sie fast zum guten Ton einer intakten Familie, oder man schämte sich in der Öffentlichkeit einen Kuss zu erhalten, heute tragen einige ihr ganzes Sexualleben in die Öffentlichkeit, zumindest verbal.
Heute schämen wir uns für unsere Arbeitslosigkeit, unseren sexuellen Fehltritt auf der letzten Party, unsere 13-jährige schwangere Tochter, unseren demenzkranken Großvater, der der jungen Pflegeschwester immer an den Hintern packt oder doch ganz banal für unsere Herkunft.
Wobei auffällt, dass einige Gründe, für die wir uns heute schämen, auch in die Rubrik Fremdscham fallen könnten, es aber nicht tun, weil sie sich nicht auf direkte Fehlhandlungen anderer beziehen, sondern wir uns eher deren Existenz schämen.

Scham ist eine Emotion, deren Sinn schwer zu ergründen scheint. Warum macht es Sinn, tomatenfarben anzulaufen, in Schweiß auszubrechen und peinlich berührt dreinblickend mit gebrochener Stimme zu erklären, dass wir jenes (welches auch immer) absonderliche Verhalten durch und durch verachtenswert finden (hier endet die Erklärung bei Fremdscham) in jener (welcher auch immer) Situation jedoch keine andere Wahl hatten (hier endet die Erklärung, wenn wir uns unserer eigenen Fehler schämen)?

Wenn Scham jedoch als Angst verstanden wird, wo liegt der Sinn in einer nachträglichen Angst? Denn Scham ist nicht die Angst vor Entdeckung einer Missetat, denn Scham tritt ja erst nach deren Entdeckung oder Beobachtung ein. Weckt Scham Sympathie? Das kann ich mir persönlich nicht vorstellen, denn finden wir nicht Menschen sympathischer, die zu ihren Fehlern stehen, statt feuermelderfarben Ausreden herzubeten?
Wissen wir nicht auch, dass es nichts bringt uns für die Menschen in unserer Umgebung zu schämen, weil die Menschen, die uns mögen uns um unserer Selbst willen mögen und nicht ihre Sympathie für uns wegen schlechter Manieren anderer aufgeben.

Ist Scham nicht nur ein Gefühl zum Selbstschutz? Wenn wir Scham empfinden, sagen wir uns selbst damit, dass wir nicht so schlecht sind, wie der Eindruck, der von uns entstehen könnte. Scham dient nicht dazu anderen zu zeigen wie gut wir sind, sondern nur uns selbst.
So passt auch die Form der Scham dazu, die ich bisher ausgespart habe, die Scham sich selbst zu offenbaren, Ideen und Wünsche preiszugeben. Die Scham davor, die manchen Partner in die Verzweiflung treibt dient dazu uns selbst glauben zu machen, dass wir trotz der schmutzigsten Phantasien ein ehrbarer Mensch sind, denn wir haben ja den Anstand sie nicht auszusprechen. So werden wir auch nie erfahren, dass unsere Gedanken gar nicht so bösartig oder dreckig oder was auch immer sind, wie wir befürchten, denn sie werden nie an die Oberfläche gelangen und ihr wahres Gesicht offenbaren.