Dienstag, 20. September 2011

Von Waldfrucht und anderen Gewohnheitsmonstern

Ich hab eine neue Mitbewohnerin. Aber nur kurz. Und ausgesucht hab ich sie mir auch nicht. Oder naja, zumindest nicht wirklich. Ja wie nun? - Ja so: Meine ursprüngliche, von mir heißgeliebte und für perfekt erachtete Mitbewohnerin musste aus beruflichen Gründen drei Monate fort. Um die Miete wieder reinzubekommen, wurde also fix eine temporäre Mitbewohnerin gesucht. Da stand auch schon Waldfrucht [Name von der Redaktion geändert] vor der Tür. Meine Mitbewohnerin fand sie gut, also gab ich relativ spontan mein Okay. Flink war Waldfrucht dann bei mir in der Wohnung. Eine Fremde! Bei mir, die ich meine einsamen Stunden doch so genieße und im Eva-Kostüm durch die Wohnung flitze! Daran sollte Waldfrucht jetzt also teilhaben. Und schon bald fand ich überall Anzeichen von Wohnlichkeit. Die bunten, mamagestrickten Puschen auf der Schuhablage. Die dreifache Dosis Milch im Kühlschrank ("oh, ich hab auch welche gekauft!"). Das Fönkabel, das seit neustem zu exotischen Knoten verkettet wird, bevor es über seinem Haken hängt... 'hey, das geht so nicht!', ruft das Monster namens Gewohnheitstrott in mir. 'Und noch ganz andere Dinge sind nicht okay, du!' 'Guck mal', sagt das GeWoTro-Monster, 'die Spülbürste ist ganz verknickert und abgenutzt seit neustem. Das kommt davon, weil Waldfrucht damit viel zu dolle scheuert, und zwar nicht im wasservollen Spülbecken, sondern nur unter einem laufenden Wasserstrahl! Ja du weißt doch, wie viel Wasser das verbraucht?!' Ich gebe GeWoTro Recht und merke, dass sich meine Stirn runzelt. Schon zeigt es auf die nächste 'schräge Nummer! Die Waldfrucht lässt die Kühlschranktür ja noch länger offen stehen als du! Dabei bist du schon knapp an deiner eigenen Toleranzgrenze damit.' - Ja, sage ich, ja GeWoTro, und merke, wie meine Schultern sich verspannen. Aber Gnade bekomme ich nicht: 'Und hast du jetzt mal mitgezählt, wie oft du den Badezimmer-Mülleimer-Deckel wieder runtergeklappt hast, weil die Olle das vergessen hat?!' Ich will dem Monster erläutern, dass mich das doch gar nicht stört und dass ich sicherlich auch meine Macken habe, aber es gestikuliert nur fragend mit denn Händen - denn inzwischen hat Waldfrucht ihre Musik ohrenbetäubend laut angeschaltet, feinster Hiphop dröhnt uns um die Ohren. GeWoTro wird plötzlich ruhig, wir gucken uns an, und teilen eindeutig denselben Gedanken: Ich höre auch gerne Musik. Wir trinken einen Tee, und als die Musik wieder aus ist, setzen wir unser Gespräch fort. 'Weißt du noch, als Waldfrucht ihre schräge, laute Freundin da hatte?' - Ja, ich weiß noch, die war ganz schön laut. - 'Ach iwo, war sie gar nicht! Die war total lieb und interessiert, hatte halt ne laute Stimme, aber du hast doch sogar verschlafen, als die vom Feiern nach Hause gekommen sind.' - Ja... ja okay. War eigentlich echt nett, dass die da war. Und seit die Waldfrucht ständig abspült, ist auch irgendwie weniger schmutziges Geschirr in der Küche... Ich bin noch ein bisschen trotzig und hole mein Hammer-Argument raus: Aber sie hat doch gesagt, sie will hier ein Praktikum machen, und sie hat immernoch keinen Praktikumsplatz. Obwohl sie so fest davon überzeugt war. Zeigt das nicht Selbstüberschätzung? Schlechte Planung? Oder wenigstens Unzuverlässigkeit? Das kleine Monster GeWoTro lächelt bitter, selten argumentieren wir so offen miteinander. 'Es zeugt davon, dass sie an sich selber glaubt. Und nicht aufgibt und mutige Schritte wagt. Könntest du dir eigentlich mal eine Scheibe von abschneiden, neechan.' Ich habe verstanden. Neue Menschen bedeuten immer ein neues Universum der Gewohnheiten. Nur weil Waldfrucht nie meiner echten Mitbewohnerin das Wasser wird reichen können, heißt das nicht, dass sie kein toller Mensch ist. Schließlich ist es so schön, einen Menschen und seine Gewohnheiten kennenzulernen, wenn man es langsam angeht. Und ich habe jetzt eben den Express-Kurs Waldfrucht gebucht: erst zusammen leben, dann näher kennenlernen.

Vom Menschsein und anderen Luxusgütern

Wie lange braucht der Mensch sich an eine neue Lebenssituation anzupassen, wie schnell können wir unser Konsumverhalten an neue Umstände anpassen und wie lange dauert diese Änderung an, wenn die alten Umstände wieder auftreten? Wenn wir einen Monat plötzlich unendlich viel Geld zur Verfügung hätten, wie schnell würden wir uns daran gewöhnen und wie lange würde es dauern sich diesen Überflusskonsum wieder abzugewöhnen, wenn wir wieder in normalen finanziellen Umständen leben würden, könnten wir die Zeit als Geschenk betrachten und danach vielleicht sogar kürzer treten, weil wir uns gerade viele Sachen gegönnt haben oder würde wir dann dauerhaft über die Stränge schlagen. Wie wäre es andersherum, wenn wir plötzlich einen Monat lang extrem sparen müssten, würden wir uns dann erst mal etwas besonderes gönnen, wenn wir wieder Geld hätten oder könnten wir daraus wirklich längerfristig etwas für unser Leben lernen?  Mal angenommen wir finden unsere persönliche Antwort auf diese Gedanken, lassen diese sich auch auf andere Lebensbereiche, wie Essen, Alkohol, Fernseh- oder Internetkonsum, übertragen oder spielen bei diesen Genusselementen noch ganz andere Fragen eine Rolle?
Ich werfe ungern Fragen auf ohne dem Versuch der Beantwortung, aber ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung. Ich würde noch nicht einmal sagen, das es vom Typ Mensch abhängt.
Warum stellt eine kichererbse so komplizierte Fragen? Weil sie eigentlich auf eine ganz andere Frage eine Antwort sucht: Was ist Luxus? 
Luxus ist eine für viele Menschen erstrebenswerte, aber unerreichbare Lebensform, die sich in materiellen und immateriellen Luxus untergliedern lässt.
Bei materiellem Luxus bin ich recht bescheiden -finde ich- mir reicht es schon, wenn ich auf nichts verzichten muss, woran ich gewöhnt bin. Wobei die Betonung hier auf "muss" liegt, das heißt, ich bin durchaus in der Lage zu verzichten, wenn ich es freiwillig tue oder der Meinung bin, dass es gut für mich ist. 
Es hört sich aber wahrscheinlich auch nur für mich und einen kleinen Teil der Menschheit bescheiden an, denn das, was ich als Standard betrachte, ist für einen großen Teil der Weltbevölkerung purer Luxus.
Bei immateriellem Luxus bin ich wesentlich anspruchsvoller: Ich wünsche mir geliebt zu werden und zwar von allen, naja sagen wir zumindest gemocht zu werden. Ich wünsche mir immer glücklich zu sein, ich wünsche mir immer freundlich zu sein, ich wünsche mir vorallem weise zu sein, und für die Menschen die mich brauchen wirklich da sein zu können und immer zu wissen, was sie gerade brauchen und natürlich wünsche ich mir Gesundheit.
Einige vermissen hier vielleicht die Aufzählung von Freizeit, die in der üblichen Definition unter immateriellen Luxus fällt, aber für mich fällt Freizeit unter materiellen Luxus, denn man kann sie mehr oder weniger kaufen: Wenn man genug Geld hat, muss man nicht mehr arbeiten und hat mehr Freizeit. 
Aber alle die aufgezählten Wünsche sind nur in sehr kleinem Maß erfüllbar. Viele versuchen den Mangel an immateriellen Luxus durch materiellen Luxus aufzufüllen und stehen früher oder später am Abgrund, in der Schuldenfalle, kurz vor einer Sucht oder werden völlig desillusioniert menschenfeindlich. Vielleicht ist es deswegen so wichtig unser eigenes Konsumverhalten zu hinterfragen (siehe Einleitung).


Luxus ist und bleibt also etwas Unerreichbares, egal wie viel wir haben, es wird immer etwas geben, wonach wir uns sehnen.