Samstag, 26. Dezember 2009

Vom Loslassen und anderen Modeerscheinungen

Immer häufiger hört man in seinem Bekanntenkreise diese Geschichten. Von anderen Bekannten, Verwandten, oder über-drei-Ecken-bekannten-Irgendwers. Diese Geschichten werden stets mit enem Ausdruck der Verzückung erzählt. Hochgezogene Mundwinkel, erregte Stimme, leuchtende Augen, ausladende Gestik. Und hier ist eine dieser Geschichten:
"Die Schwester von einem Freund von mir hat mit dreiundzwanzig einen schweren Autounfall gehabt. Es war wirklich nur ganz knapp, dass sie den überlebt hat. Und eigentlich hatten die Ärzte gesagt, sie würde ihren linken Arm nie wieder bewegen können. Aber ein Glück lagen sie falsch. Da hat sie gemerkt, wie kostbar das Leben ist, und sich gedacht, wie wenig sie doch bis jetzt daraus gemacht hat. Da hat sie alles umgekrempelt, ihre Familie hinter sich gelassen, ihre Siebensachen gepackt und ist losgefahren. Sie hat ganz Italien zu Fuß durchwandert, um dann in Indien eine kleine Wohnung zu mieten und da bei einem Straßenguru Yoga zu lernen. Dann ist sie nach Russland gefahren....", naja, und so weiter. Ein einschneidendes Erlebnis, gefolgt von neuer Lebendigkeit, dem Willen, so richtig zu leben und alles auszuprobieren und der Entschlossenheit, nur noch das zu tun, was einem selber guttut.

Wir Normalbürger hören und erzählen solche Geschichten voller Bewunderung. Staunen über den Mut und die Entschlossenheit, die hinter solchen Entscheidungen stecken. Sind vor allen Dingen neidisch, dass es jemand schafft, ohne zu zögern seinem eigenen Herzen zu folgen, während wir in unserem Alltag - Arbeit, Familie, Schlafen, Essen, und wieder Arbeit - feststecken. Während für uns jede kleine Neuerung (die Umstellung von harten auf mittelharte Zahnbürsten. Dreimal im Monat Joggengehen. Filme mit Anspruch gucken, statt Twilight und Ein Chef zum Verlieben.) ein täglicher Kampf ist. Während wir sogar darum ringen müssen, überhaupt zu erkennen, was wir wollen.
Diese Bewunderung des Loslassens alles Materiellen und Bekannten, der Sturz kopfüber ins Neue, Aufregende und Erträumte - sie ist zu einem Massenphänomen geworden.
Welch ein Paradoxon, schreien doch die Medien laut über eine Rückkehr der traditionellen Werte Familie, Treue, Geld und Karriere. Und gleichzeitig boomen Individualselbstverwirklichungsdokumentationswerke a la "Ich bin dann mal weg" von H. Kerkeling.
Wir sind schon eine komische Bevölkerung. Was wollen wir eigentlich? Konstanz, Loyalität, feste Freunde und die stetige Präsenz der Zuneigung und Bewunderung unserer Mitmenschen? Oder Abenteuer, ständig Neues lernen, Selbstverwirklichung im Alleingang und in stetiger Bewegung ganz werden?

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